INBILDER

Der wohl davonfliegen könnte mit dem strahlend gespreizten Nike-Flügel, er steht fest auf einem unsichtbaren Grund. Gestraffte Schrittstellung, angespannt vorgebeugter Rumpf, doch der Kopf geht nicht mit. Von seinem Lotpunkt scheint ein Senkblei in unbestimmbare Tiefe zu weisen und dem Fortstrebenden Einhalt zu gebieten. Ikarus weiß, dass ein Flug scheitern muss. Ikarus, im Bewusstsein seiner Schwere, tanzt. Er löst sich von der Erde im Sprung und kehrt auf solide Füße zurück. Nach kurzem Traum ist der Flügel wieder Arm, und den Kopf im Nacken prüft der Zurückgekehrte die erreichbare Höhe: Menschenmaß.

Eine Künstlerin misst die Menschen ihrer Vorstellung auf. Die Silhouetten-Gestalten von Anja Verbeek haben diese überlangen Sprungbeine, pralle Waden Muskeln und federnde Knie, angewinkelte Arme und winzige Köpfe - isolierte Pinseltupfer. Vor dem Papiergrund stehen sie raumlos, sind frei hingesetzt mit japanischem Tuschepinsel, und eigenwillig unorganisch wirkt die waagerecht streifige Verteilung der Farbgewichte innerhalb der definierten Form: Tarnfarbe? Wie aus großen mit grauockerblauen Farbwolken getränkten Papierbögen ausgeschnitten wirken die Figuren, so strikt ist dem Farbfluss an ihren Rändern Einhalt geboten. Schaut man sehr genau hin, so erkennt man den dunkleren Farbrand auftrocknenden Pigments-Stilmittel im inneren der Figur-schmaler auch an ihren Rändern. Die Figuren entstehen aus einem Guss.

Die Aquarelle, die hier zusammengetragen sind, haben die Spontaneität des einen Gusses, doch dieser ist wohl vorbereitet. Das bezieht sich nicht nur auf die Technik der Farbherstellung, sondern meint mehr. Die Leichtigkeit des Arms, der die Figuren auf das Blatt am Boden setzt, die Disziplin, die den Pinselduktus, den Sprung, den Flug, den Rausch im rechten Augenblick bremst, kommen aus der Tanzerfahrung des eigenen Körpers. Die äußerste Reduktion der Figur auf eine semitransparente Fleckgestalt, ist das Ergebnis eine prüfenden Durchgangs durch das Figurenvokabular der Kunstgeschichte. Früher hat Anja Verbeek selbst getanzt, jetzt lässt sie die Figuren tanzen, die in der Meditation zu ihr kommen, aus der Erinnerung, der Mythologie und dem archaisch Unbekannten, das sie zu ertasten sucht.

Elementare Konstellationen: neben dem Einzelnen, der steht, geht, läuft, an Stab oder Speer gestützt und misst, das Paar im Tanz, in der Umarmung; die Dreiergruppe. Nennt man sie Ikarus, denkt an „Jazz“ von Matisse? Nennt man sie Faun, denkt an Nijinsky, nennt man sie Paar, und Rodins Aquarelle sind präsent; die drei Grazien und die Kunstgeschichte stürmt auf das Bildgedächtnis ein...Kunstsehen am Ende des 20. Jahrhunderts ist immer ein Mitsehen alles Gewesenen, das in der Gegenwart präsent ist. Intelligentes Kunstmachen sieht sich mehr denn je der Aufgabe konfrontiert, die aufgesaugte Bilderflut verwandelt im Eigenen erscheinen zu lassen. In den so zarten, wie eigenwilligen Farbspuren, die Anja Verbeek auf weiße Blätter setzt, paart sich der Mut zum Vergessen von Namen mit dem Willen, Formen aus der Tiefe zu schöpfen, in der die Bilder sich gleichen. Jede einzelne Figur ist namenlos neu.

Wibke von Bonin

Katalog INBILDER, 1992